Berichte zur Konferenz in den Medien

Provinz versus Provinzialität. Kulturelle Substanz im ländlichen Raum


Wildnis macht kreativ

Bericht in der Lausitzer Rundschau vom 14.5.2011

von Felix Johannes Enzian

Trotz oder sogar wegen Geldmangels und Bevölkerungsschwunds blüht das Kulturleben in Brandenburg. Das ist das Ergebnis einer Tagung der Linkspartei-nahen Rosa-Luxemburg-Stiftung am Donnerstag im Oderbruch. Auch einige Lausitzer haben auf die kreativen Stärken der Provinz hingewiesen. Mehr Geld für Kultur wäre ihnen lieber. 

Der Schauplatz für die Tagung mit dem Titel „Provinz versus Provinzialität. Kulturelle Substanz im ländlichen Raum“ ist passend gewählt: ein löchriger und schiefer Pavillon aus Eichenholzstämmen, das „Theater am Rand“ in Zollbrücke im Oderbruch. Schwalben flattern und fiepen im Gebälk über dem Podium. Es muss Glück sein, dass keine etwas auf die Redner fallen lässt. Draußen zieht hinter ein paar Fachwerkhäusern träge der Grenzfluss vorbei.

Gegen 18 Uhr sagt sich das örtliche Storchenpaar auf einem Strommast Gute Nacht.

Tagungsinitiator Gerd-Rüdiger Hoffmann, Landtagsabgeordneter aus Senftenberg (Kreis Oberspreewald-Lausitz), eröffnet die Debatte mit dem bekannten Horrorszenario des entzivilisierten Landlebens: „Kulturhaus, Schule, Gasthof und Dorfladen sind längst geschlossen“, zählt er auf. Die letzten Alten dämmern vor dem Fernseher, die Jugend trifft sich zum Besäufnis an der Tankstelle. Der Berliner Sozialwissenschaftler Rainer Land nennt sie „die nicht abwanderungsfähige Restbevölkerung“. Der Potsdamer Ethnologe Dirk Wilking hält ein launiges Referat über „Männer, Bier und Lalülala“ in den dörflichen Feuerwehren. Er hebt zugleich deren stärkende Rolle für das Gemeinwesen hervor – „ob Hoch- oder Tiefstkultur, die Feuerwehr ist immer dabei“ – und empfiehlt versöhnlich, „die Provinz auch provinziell sein zu lassen“.

Anschließend korrigieren mehrere Redner das Bild von der kulturellen Ödnis in der Provinz. Die Berliner Kulturwissenschaftlerin Kristina Volke berichtet vom Prignitz-Dorf Klein-Leppin, wo Künstler einen Schweinestall zur Oper machen. Sie schwärmt von der Neuen Bühne Senftenberg, wo hochkulturelles „Theater für die Dagebliebenen“ geboten werde: „nicht anbiedernd, sondern intellektuell, provokant und präzise in der Sprache“. Mike Kess, Mitarbeiter der Grünen-Landtagsabgeordneten Sabine Niels, schildert das fantasievolle Engagement gegen CO-Endlager als „lebendige Protestkultur auf dem Lande“.

Die Tagungsteilnehmer sind sich angesichts solcher Beispiele einig, dass in Brandenburg gerade aus wirtschaftlichen und sozialen Krisenerfahrungen eine Kreativität erwächst, die mit der Metropolenkultur durchaus konkurrieren kann. Ex-Kulturminister Hinrich Enderlein ruft sogar begeistert die „Renaissance der Provinz“ aus.

Es bleibt die Frage nach den kulturpolitischen Konsequenzen: Wenn Not erfinderisch macht, braucht Kultur dann überhaupt Geld vom Staat? Hausherr Tobias Morgenstern gibt eine radikal-liberale Antwort, die sicherlich nicht zu den Vorstellungen der Linken passt. Er betont, dass sein „Theater am Rand“ großenteils ohne öffentliche Förderung schon seit mehr als zehn Jahren überlebt: „Wir sind eine private GmbH, das finde ich gut so.“ Morgenstern nimmt in Zollbrücke noch nicht einmal Eintritt; nach der Vorstellung gibt jeder Zuschauer, was er für angemessen hält.

Neue-Bühne-Intendant Sewan Latchinian möchte daraus allerdings kein allgemeines Finanzierungsmodell ableiten. Er beklagt, dass die Formulierung der Kulturförderung als „freiwillige Aufgabe“ der Kommunen zum Missverständnis führe, an ihr könne nach Belieben gespart werden. Latchinians Bonmot „Kultur kostet viel Geld, Unkultur noch mehr“ wird mit Blick auf die erwähnten Verrohungserscheinungen des Landlebens mehrfach auf der Tagung zitiert. Der Intendant würde Kultur in der Kommunalverfassung lieber als „freie pflichtige Aufgabe“ festgeschrieben wissen.

Zum Tagesausklang wird Volker Brauns „Flick von Lauchhammer“ als musikalisch inszenierte Lesung gespielt. Nach der Vorstellung wendet sich Tobias Morgenstern an die Zuschauer: „Sicher haben Sie sich schon eine Meinung gebildet, was Ihnen diese Aufführung wert ist. Wenn Sie noch vier Euro drauflegen, können wir das Theater weiter ausbauen.“

Zum Artikel in der Online-Ausgabe der Lausitzer Rundschau ...


Lob der Provinz

Bericht in der jungen Welt vom 16.5.2011

von Jana Frielinghaus

Eine Tagung in Zollbrücke an der Oder rückte Kulturheroen der Peripherie ins rechte Licht

In den Weiden am Zollbrücker Oder­ufer hängt noch das Treibgut des Januarhochwassers. In dem Zehnhäuserdorf an der polnischen Grenze haben der Schauspieler Thomas Rühmann und der Musiker Tobias Morgenstern vor Jahren ihren Traum von der eigenen Bühne verwirklicht. Ihr Theater am Rand diente Ende vergangener Woche als Tagungsort. Die Rosa-Luxemburg-Stiftung hatte zu einer Veranstaltung unter dem Motto »Provinz versus Provinzialität. Kulturelle Substanz im ländlichen Raum« eingeladen, auf der dies erörtert wurde: Wie bringt man Schauspiel- und andere Künste unter die Leute in »sich entleerenden Regionen«? Wo kriegt man das nötige Kleingeld dafür her? Wie schafft man es, daß sich die Menschen vor Ort mit einer Sache identifizieren, ohne im Bemühen um Anerkennung ins Provinzielle abzugleiten?

Provinzialität: Die Referenten in Zollbrücke waren sich einig darüber, daß das keine Ortsbeschreibung ist, sondern die eines Geisteszustands. Nicht provinziell zu sein ist etwa für Mechthild Eickhoff vom Bundesverband der Jugendkunstschulen eine Frage »mentaler Mobilität«, von Offenheit gegenüber Neuem. Und Sewan Latchinian, Intendant der Neuen Bühne Senftenberg, zitierte seinen Cottbuser Kollegen und Mentor Christoph Schroth: »Da wo ich bin, ist keine Provinz.«

Eine wesentliche Schwierigkeit von Theaterhelden und Kulturberserkern wie Morgenstern, Rühmann oder dem Senftenberger Ensemble, dessen Mitglieder für 150 prozentigen Einsatz 1200 Euro netto pro Monat bekommen: Wie bekommt man in Gegenden die Ränge voll, in denen der Wolf repatriiert wird, während in Dörfern und sogar Städten überwiegend »nicht abwanderungsfähige Restbevölkerung« anzutreffen ist. So kategorisieren deutsche Soziologen. Gerhard Gundermann fand für das Lebensgefühl der Dagebliebenen schon in den 90ern den richtigen solidarisch-trotzigen Ton: »Hier sind alle noch Brüder und Schwestern/ Hier sind die Nullen ganz unter sich/ Hier isses heute nicht besser als gestern/ und ein Morgen gibt es hier nicht.« Damit ist eigentlich alles gesagt über Deindustrialisierung bzw. Umbruch in Agrarregionen und die danach verbliebenen Existenzmöglichkeiten.

Die Tagungsteilnehmer sahen im Krisenhaften eine Chance für kulturelle Innovation und machten Provinzialität eher im hektischen großstädtischen Kulturbetrieb mit seinen Vorstellungen von Avantgarde aus. Wo man auf jeden Interessierten angewiesen ist, weil Kulturförderung für die Gemeinden eine noch freiwilligere Aufgabe als in den Ballungsräumen ist, setzt man Dinge tendenziell eher so um, daß sie noch verstanden werden können. In Zollbrücke steht Experimentelles gleichberechtigt neben Schwänken, Konzerten verschiedenster Künstler, Kabarett, zeitgenössischen und klassischen Stücken. Voll ist es eigentlich immer, sofern man das nach einigen Besuchen verallgemeinern kann. 80 Prozent der 22000 Gäste im vergangenen Jahr kamen aus der Region, nur ein Fünftel aus der Hauptstadt, schätzt Tobias Morgenstern. Gezahlt wird beim »Austritt« nach Gutdünken, die Einnahmen reichen nach seinen Angaben, um die Künstler zu entlohnen. Wie hält man einen solchen Betrieb am Laufen? »Ich mach hier eigentlich gar nichts«, erklärt Tobias Morgenstern, obwohl er zumindest auf der Bühne höchst präsent ist. Rühmann und er sorgten lediglich »für den guten Geist«.

Ein solcher von anderen Referenten oft beschworener genius loci fehlt manch anderem Kulturprojekt, wenn »übergestülpt« und missioniert wird, oft in guter Absicht, oft aber auch mit unverhohlener Arroganz. Das produziert Abwehr, gespeist aus vielfältigen »Kolonialisierungserfahrungen«, wie der ebenfalls in Zollbrücke anwesende Hinrich Enderlein, FDP-Politiker und von 1990 bis 1994 Kultusminister in Brandenburg, anmerkte. Tendenzen dieser Art hat auch der Ethnologe und Germanist Dirk Wilking bei seinen Feldforschungen im südöstlichen Brandenburg beobachtet. Er macht sogar zunehmend »Parallelgesellschaften« in den Dörfern aus – auf der einen Seite Zugezogene, auf der anderen Alteingesessene. Wilking hat sich vor allem mit der Rolle der Dorffeuerwehren beschäftigt, deren Aktivitäten für ihn auch »Ausdruck einer dörflichen Kultur« sind. Einerseits gebe es in den Wehren häufig eine Art »Wagenburgmentalität«, andererseits vollbrächten sie gewaltige Integrationsleistungen, indem sie Jugendlichen Fähigkeiten und Selbstvertrauen vermitteln, die bisher »kaum Aufwertungserfahrung« haben. Der Geschäftsführer des »Brandenburgischen Instituts für Gemeinwesenberatung« koordiniert die Arbeit der Mobilen Beratungsteams gegen Rechtsextremismus und Fremdenfeindlichkeit und vertritt die Auffassung, daß Rassismus und Neonazismus keine Bedeutung hätten, »wenn das demokratische System gut funktionieren würde«.

Daß es mindestens hochgradig defizitär ist, diese Erfahrung machen Brandenburger derzeit auch mit einer »rot-roten« Landesregierung. Die märkische Linkspartei hatte im Wahlkampf 2009 versprochen, die hochriskante Verpressung von bei der Braunkohleverstromung anfallendem Kohlendioxid durch den Vattenfall-Konzern zu verhindern. Jetzt streitet deren Wirtschaftsminister Ralf Christoffers vehement dafür, dem Stromriesen die Erprobung der Risikotechnologie zu ermöglichen, ein Landesparteitag folgte ihm. Insofern kann es als sanfte Subversion gelten, daß die Organisatoren der Tagung vom Lausitzer Regionalbüro der Linke-nahen Stiftung mit Mike Kess einen Vertreter der Bürgerinitiativen gegen CO2-Endlager in der Mark eingeladen hatten, über »Protestkultur auf dem Lande« zu sprechen. Der hob die gute Vernetzung der heimischen Gruppen mit anderen bundesweit hervor, die gegen Atommüllendlager oder neue Tagebaue kämpfen. Der gegen Provinzialität immunisierende Blick über den eigenen Tellerrand wird hier also täglich praktiziert.

Ein unfreiwilliges Beispiel für – auch vor 1989 und gerade im Osten – grassierenden Hauptstadtprovinzialismus, der zur Wahrnehmung von Leistungen außerhalb deren Grenzen nicht fähig ist, lieferte gegen Ende Thomas Flierl, Exkultursenator der Linken. En passant äußerte er, die in der DDR propagierte »Aufhebung des Gegensatzes zwischen Stadt und Land« habe »nur in der Datsche« stattgefunden. Hätte er in den 80ern irgendwo da draußen gelebt, wäre ihm aufgefallen, was Intendanzen und Ensembles quer durch die Republik auf die Beine stellten, um den Massen den Zugang zur Bühnenkultur zu ermöglichen. So konnten Lehrlinge aus entlegenen Orten Theater-, Opern- und Ballettvorstellungen für ein lächerliches Taschengeld besuchen, Bustransfer inklusive.

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