Beiträge und Referate

Provinz versus Provinzialität. Kulturelle Substanz im ländlichen Raum


Provinz versus Provinzialität. Eine Einführung

von Gerd-Rüdiger Hoffmann

Gerd-Rüdiger Hoffmann ist Philosoph und Afrikawissenschaftler und seit 2004 Mitglied des Landtags Brandenburg. 

Wer Zollbrücke gefunden hat, befindet sich in tiefster Provinz. Weiter östlich geht es kaum. Was wollen wir also hier? Oder: Warum diese Konferenz an diesem Ort?

Wer hier schon einmal war, im Theater am Rand oder in der Galerie (die es bis vor wenigen Wochen noch gab), der weiß, was viele bereits ahnen. Provinz ist nicht gleich Provinz. Und Provinz muss überhaupt nicht provinziell sein. „Provinz“ kann einen geografischen Raum meinen und selbst ein wertender Begriff sein, der befreit ist von negativer Konnotation. „Provinz“ muss dann dennoch nicht frei sein von einer Portion Romantik. Warum auch, wenn es doch so ist, dass Neues und Kreatives in der Provinz recht gut gedeihen können, weil hier manches langsamer und dafür gründlicher verläuft. Das könnte eine Alternative sein zum Hinterherhecheln einer oft schrillen und temporeichen Mode im Kunst- und Kulturbetrieb der Hauptstädte und ihrer Medien und Apparate, die uns zu erklären versuchen, was das Gegenteil von provinziell ist.

Doch die Antwort kann nicht heißen, dass die Provinz nie provinziell sei. So einfach ist es nun auch wieder nicht. Denn was passiert eigentlich, wenn im ländlichen Raum das Feuerwehrdepot zum kulturellen Zentrum des Ortes wird? Oder die Jugend sich nicht in Dorfkneipe oder Klub versammelt, sondern an der nächstgelegenen Tankstelle? Kulturhaus, Schule, Gasthof und Dorfladen sind längst geschlossen, die Fahrbibliothek kommt auch nicht mehr, Parteien interessieren nicht und in der Kirche ist auch nicht viel los.

Und dennoch gibt es eben nicht bloß Tristesse und Abbau der kulturellen Substanz, sondern auch so etwas wie eine Gegenbewegung: In der Provinz wehrt man sich zunehmend gegen Provinzialität und Verrohung. Nicht jedes Mittelalterfest und nicht jedes Dorffest sind nun gleich in diese Gegenbewegung einzureihen. Eher gilt das Gegenteil, wie auch so manches Kulturevent auf den großen Plätzen Berlins nicht nur als schlicht und kommerziell, sondern als provinziell zu bezeichnen ist. Provinziell nenne ich ebenso, wenn ich nach einer Theaterpremiere bei der Feier nicht mehr sagen kann, dass es langweilig war, trotz der vielleicht gewaltigen Dekoration und greller Einlagen. Teuer wird zu oft mit gut oder bedeutend verwechselt. Das kann in der Provinz kaum passieren. „Knappe Kassen“ und „demografischer Faktor“ reichen für Entscheidungsträger oft aus, um Kulturarbeit auf dem Lande abzubauen. Aber auch in den Städten der Provinz werden gelegentlich mit absurden Dichotomien Straßenbau gegen Freizeitzentrum, Kindergarten gegen Literaturmuseum oder Sportverein gegen Theater in Anschlag gebracht.

Ideen ersetzen fehlendes Geld. Das passiert in der Provinz öfter als in den Metropolen. Das könnte ein erstes Merkmal sein, um die Vorteile der Provinz zu kennzeichnen.

Das zweite Merkmal, eigentlich auch das Ziehen eines Vorteils aus einem Nachteil, könnte sein, dass – oft aus der Not heraus – starre Grenzen zwischen den einzelnen Kunstsparten und dem, was unter Soziokultur fällt, aufgehoben sind. Freilich gibt es das auch in den Metropolen. Das Radialsystem in Berlin, Zeche Zollverein in Essen, Medienbunker Duisburg Marxloh, fabrik Potsdam in der Schiffbauergasse oder Initiativen in Dresden seien als Beispiele genannt. Im Land Brandenburg fällt auf, dass der oft festgefahrene Gegensatz zwischen freien und komplett staatlich und kommunal geförderten Theatern so nicht existiert. Die uckermärkischen bühnen schwedt und die NEUE BÜHNE Senftenberg sind Bastionen der Hochkultur, der Kulturarbeit und der Sozial- und Bildungsarbeit.
Das Dritte, um Vorteile kultureller Arbeit in der Provinz zu beschreiben, könnte sein, dass Finanzierung und Management, Kunstproduktion, Präsentation und Rezeption teilweise völlig neue Wege gehen, vorbei an eingefahrenen bürokratischen Verfahren, Förderrichtlinien oder Kämpfen um Besitzstandssicherung.

Das Vierte ist, dass in der Provinz beim praktischen kulturpolitischen Tun viel selbstverständlicher als in den Metropolen ein weiter Kulturbegriff angelegt wird. Im Unterschied zu dem wesentlich auf Kunst und Geist begrenzten Kulturbegriff der hauptstädtischen Feuilletons, bezieht sich der weite Kulturbegriff stärker auf die Lebenswelt, in der wir uns bewegen, die wir uns durch Arbeit und Zusammenleben geschaffen haben und ständig neu schaffen. Das gestaltende Element im Verhältnis der Menschen zueinander, zur Natur und zur bereits geschaffenen Kultur wird hier viel offensichtlicher. Es steckt im Begriff Kultur drin, dass Menschen nicht dazu da sind, sich Sachzwängen oder technologischen Prozessen bloß unterzuordnen, sondern im Gegenteil, Produktion und Verkehr nach menschlichem Maß zu formen. Mit diesem Ansatz ergibt sich ganz klar, dass in der Kulturpolitik Kunst, Kultur, Zusammenleben und Arbeit zusammen gehören. Diese als Kultur bezeichnete Lebenswelt existiert ohne Auswahlkriterien, was denn das Schöne, Gute und Wahre sein sollte, sondern umfasst alle Lebensäußerungen derjenigen, die an ihrer Existenz mitgewirkt haben und mitwirken.

Der Geschäftsführer des Deutschen Kulturrates und Herausgeber einer Publikation zum Thema „Kulturlandschaft Deutschland: Die Provinz lebt“, Olaf Zimmermann, kritisiert, Kultur in der Provinz werde oftmals und das vollkommen zu Unrecht gleichgesetzt mit provinziell.

Damit ist die Frage gestellt, ob es darum gehen muss, Kultur aufs Land zu bringen. Geht es wirklich um diese Ausweitungsperspektive von Kultur?

Gibt es überhaupt noch diese alte Trennung zwischen Land und Stadt, Provinz und Metropole in der Kultur? Der Nutzen einer gemeinsamen Regionalentwicklung ist oft erkannt. Aber ist auch eine gemeinsame kulturelle Regionalentwicklung anerkannt? Oder reicht es, ländliche Umgebung für Theater, Konzert und Oper zu nutzen, um die Großstädter in die Provinz zu locken? Das wäre wohl sehr kurz gedacht. Denn 57 Prozent der Bürgerinnen und Bürger Deutschlands leben im ländlichen Raum. Doch obwohl die Mehrzahl der Bundesbürger nicht in Großstädten, sondern vielmehr in Mittelstädten oder Dörfern lebt, und dort mehr als die Hälfte der Wirtschaftsleistung erbracht wird, spielt die Kultur in den Regionen nach Ansicht der veröffentlichten Meinung eine Nebenrolle.

Auch das Agieren von Kulturarbeitern im ländlichen Raum ist noch zu selten Gegenstand kulturpolitischer Überlegungen und Strategien. Doch auf diesem Feld entwickelt sich etwas im Spannungsfeld vom Bewahren kultureller Substanz und des Schaffens von Neuem - ganz im Sinne des weiten Kulturbegriffs. Unklar ist, ob zwischen „Metropolenkultur“ und „Provinzkultur“ ebenfalls ein Spannungsverhältnis existiert. Fast scheint es, dass es hier gar kein Verhältnis gibt, lediglich ein Nebeneinanderher. Aber auch in dieser Frage ist Bewegung zu erkennen, besonders augenfällig dann, wenn „Hochkultur“ die Provinz einnimmt und wie auf Volksfesten angenommen wird. Diese Entwicklungen zu beleuchten und darüber hinaus den Versuch zu unternehmen, den programmatischen Ansatz dabei herauszuprozessieren, ist Anliegen dieser Konferenz des Kulturforums der Rosa-Luxemburg-Stiftung in der tiefsten Provinz ganz weit im Osten.

Referat von Gerd-Rüdiger Hoffmann

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