Filmkunst mit dialektischem Humor: Günter Reisch

                  

Nachruf von Gerd-Rüdiger Hoffmann

zum Tod von Günter Reisch (24. November 1927 - 24. Februar 2014)

Günter Reisch hat als Regisseur, Drehbuchautor und Lehrer an der Filmhochschule Konrad Wolf Potsdam Babelsberg dazu beigetragen, dass es noch immer anregend und eine Freude ist, sich einige alte Filme aus der DDR anzusehen und darüber zu sprechen – auch zu streiten. Selbstverständlich nicht frei vom damaligen Zeitgeist, so ist sein Gesamtwerk jedoch vor allem Filmkunst. Bereits 1956 entstand sein erster Film „Junges Gemüse“. Es folgten solche bedeutenden Werke wie „Gewissen in Aufruhr“ (1961), „Solange Leben in mir ist“ (1965), „Ein Lord vom Alexanderplatz“ (1967), „Jungfer, sie gefällt mir“ (1968), „Unterwegs zu Lenin“ (1970), „Trotz alledem!“ (1972), „Wolz – Leben und Verklärung eines deutschen Anarchisten“ (1973), „Nelken in Aspik“ (1976), „Anton der Zauberer“ (1978) und schließlich in Co-Regie mit Günther Rücker „Die Verlobte“ (1980).

Die genannten Filme sind noch längst nicht alle. Oft war Günter Reisch auch am Drehbuch beteiligt. Als Lehrer an der Filmhochschule Potsdam-Babelsberg hat er die Handschrift einer Generation erfolgreicher Filmregisseure entscheidend mitgeprägt. Und er hat als kritischer Geist stets dazu gestanden, mit seiner Kunst die Sache des Sozialismus befördern zu wollen. Ihm war wohl klar, dass im kleineren Deutschland, wo nach dem Kriege trotz aller Widrigkeiten ein Sozialismus versucht wurde, das nur mit viel Humor zu bewerkstelligen sein würde. Die Alles- und Besserwisser unter den Partei- und Staatsfunktionären kamen mit dieser Haltung nicht immer klar. Denn Reisch war mit seinen Fragen am wirklichen Leben dran: Darf ein Vertreter der führenden Klasse – der Arbeiterklasse – ein Lebemann und Dieb sein? Natürlich nicht! Darf ein Arbeiter kreativ, gewitzt und redegewandt sein? Das wohl eher, aber so ganz unverdächtig ist ein solches Verhalten nicht zu nennen gewesen. Und ist ein solches Verhalten gar in einer einzigen Person gleichzeitig möglich? Wir wissen es, beim Anton, dem Zauberer, passt es zusammen und als Häftling wird er sogar Aktivist der sozialistischen Arbeit. Dass über diese und andere Themen im Alltag und in Versammlungen gestritten wurde, haben wir Günter Reisch zu verdanken. Sicher auch anderen, aber dass die sozialistische Sache und all ihre Mängel ernsthaft und doch nicht verbissen immer wieder befragt wurde, dass haben wir maßgeblich dem dialektischen Humor seiner Filme zu verdanken.

Nun könnte man meinen, dass das ja auch nicht geholfen habe. Die Niederlage wäre ja 1989 perfekt gewesen. Dann erlaube ich mir eben mal anzumerken, dass wir auch zwischen 1945 und 1989 gelebt haben, nicht nur Irrtümer sammelten, nicht nur auf Godot wartete und nicht nur auf 1989. Günter Reisch lebte für den Film. Das war gute und wichtige Arbeit für diese Zeit und – wie sich heute zeigt – darüber hinaus.

Zuerst war es mit der Arbeit von Günter Reisch eventuell so, wie einige, die es wissen müssen, behaupten, nämlich dass er sich mit Komödien von bedeutungsschweren Filmen erholen wollte. Wichtig ist, glaube ich jedenfalls, etwas anderes. Beides hatte mit dem richtigen Leben zu tun – die Komödie und der politische Film. Beides ist Kunst. Am liebsten sind mir die Filme, in denen beides gleichzeitig ablief: Komödiantisches und Tragisches mit wichtiger politischer Bedeutung.

„Wolz – Leben und Verklärung eines deutschen Anarchisten“ von 1973 und „Anton der Zauberer“ aus dem Jahre 1978 gehören zu meinen Lieblingsfilmen. „Wolz“, ich war einundzwanzig Jahre alt, als dieser Film ins Kino kam, hatte für mich eine besondere Bedeutung, führte er doch vor, dass Linkssein nicht einheitliches Marschieren in Reih und Glied bedeuten muss. Die Filmkunst wie auch die Philosophie, die ich ein Jahr später in Leipzig zu studieren begann, taugen wenig als disziplinierte Disziplinen. Fortschritt wird sich wahrscheinlich doch nicht so geradlinig durchsetzen lassen, wie es der Zeitstrahl im Geschichtskabinett der Polytechnischen Oberschulen lehren wollte, ahnten wir in den Siebzigern langsam und wissen es jetzt. Denn zum Glück sind es immer Menschen, die etwas bewegen. Und die lassen sich nicht bis ins Letzte berechnen. Der Marxist Ernst Bloch, den mir meine Partei damals verbieten wollte, der allerdings durch meinen Lehrer Helmut Seidel an der Leipziger Karl-Marx-Universität doch irgendwie stets präsent war, sprach davon, dass der Fortschrittsbegriff „… statt der Einlinigkeit ein breites, elastisches, völlig dynamisches Multiversum, einen währenden und oft verschlungenen Kontrapunkt der historischen Stimmen…“ nötig hätte.

Wenn wir heute über Günter Reisch sprechen, dann geht es um bedeutende Filmkunst, um viele gute Filme. Und natürlich geht es auch um das Politische in diesen Filmen. Was nicht geht, aber im heutigen Reden über Künstler aus der DDR oft praktiziert wird, ist, dass mit einem Hang zum Inquisitorischen vielleicht, mit einer fast selbstverständlichen neuen Art der Besserwisserei mit Sicherheit, zuerst die politische Haltung bewertet wird, um dann feststellen zu können, ob es auch Kunst sei, was da entstand.

Das „Haus der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland“ in Bonn hat eine interessante Webseite. Hier kann man zum Beispiel irgendein Jahr anklicken, um dann zu vergleichen, was im Osten und was im Westen so passierte. In der Rubrik „Film“ lassen sich Kassenschlager der einzelnen Jahre vergleichen. Das Jahr 1970 liefert einen interessanten Vergleich:

Im Westen war der Film von Robert Stevenson „Ein toller Käfer“ der Renner. In der Kritik dazu heißt es: „Ein turbulentes modernes Märchen aus der Disney-Werkstatt, angereichert mit vielen hübschen Gags. Heitersympathische Unterhaltung, freilich nicht ohne Längen und mit einigen allzu übertriebenen Sentimentalitäten.“

Ein kurzer Klick in den Osten führt uns zum 1970er Kassenschlager der DDR. In der Kritik lesen wir: „Ein durchaus interessantes Zeitdokument, das aber Wissen um geschichtliche Tatbestände voraussetzt und auch von der künstlerischen Form her Ansprüche stellt.“ Gemeint ist der Film von Günter Reisch „Unterwegs zu Lenin“.

Genau, das ist es, politischer Anspruch, Wissen, künstlerische Form. Die Filme von Günter Reisch verlangen Wissen und produzieren Wissen, sie fordern zum Denken auf und sind eben doch vor allem Filme, in denen geliebt, gelacht, gekämpft, gezweifelt, geglaubt, betrogen und geholfen wird. Auch gestorben wird. Günter Reisch beherrschte sein Handwerk. Bereits viele konnten es von ihm lernen. Und so finden wir in den Filmen von Andreas Dresen noch immer, was mir auch bei Reisch sehr wichtig ist: Ein großes Vertrauen in die Kunst der Schauspielerinnen und Schauspieler. Schnitt auf Schnitt, Action auf Action, ersetzen eben nicht Charaktere, die sich oft leise nur dem Zuschauer offenbaren, sich dafür aber tief ins Herz und ins Gedächtnis anspruchsvoller Kinogänger graben.

Zur so genannten DDR-Nostalgie taugen die Reisch-Filme nicht. Seine Kunst wie auch sein Leben ist voller lebendiger, völlig unakademischer Dialektik. So etwas bleibt. Und deshalb war es schlau, ihn 1994 endlich in die Akademie der Künste Berlin-Brandenburg aufzunehmen und 2007 das Reisch-Archiv ins Filmmuseum Potsdam zu holen.

Die Senftenberger NEUE BÜHNE zeigte am 2. März 2014 den Film „Wolz“. Gast war Heidemarie Wenzel, die sich im Gespräch mit dem Intendanten Sewan Latchinian den heutigen Fragen stellte. Günter Reisch, am 24. Februar 2014 in Berlin gestorben, wird beim Fragen und Antworten sehr fehlen.