Der 17. Juni 1953

                  

Annäherung an ein schwieriges Thema: Der 17. Juni 1953

Rede von Gerd-Rüdiger Hoffmann zur Eröffnung einer Bildungsveranstaltung der Rosa-Luxemburg-Stiftung Brandenburg in der Wendischen Kirche Senftenberg am 17. Juni 2003

Ein herzliches Willkommen zur einer Bildungsveranstaltung der Rosa-Luxemburg-Stiftung Brandenburg e.V., die sich – wie sich bis zuletzt zeigte – einem sehr schwierigen Thema stellt: Es geht um die Ereignisse um den 17. Juni 1953 in der DDR, für die selbst die Bezeichnung umstritten ist. Volksaufstand? Arbeiteraufstand? Putschversuch? Ein faschistischer Putsch gar? Normaler Streik? Bürgerbewegung? Revolution? Konterrevolution? Anfang vom Ende der DDR? Das Wissen um die Ereignisse selbst und erst recht um die Zusammenhänge, so ist mein Eindruck, hält sich trotz oder wegen des derzeitigen Überangebots an Büchern, Artikeln und Fernsehsendungen in Grenzen. Aber eine Meinung hat fast jeder dazu.

Wenn aber Wissen und Meinung so weit auseinander klaffen wie in diesem Falle, dann ist offensichtlich politische Bildung im Lande gefragt. Die Rosa-Luxemburg-Stiftung ist dazu laut Satzung verpflichtet, wie die anderen parteinahen Stiftungen übrigens auch. Allerdings, und das macht die Sache nicht leichter, es werden gelegentlich noch immer zuerst Bekenntnisse abgefordert, bevor wir uns dem Thema stellen dürfen.

Ich möchte ganz klar sagen, dass es keineswegs eine Missachtung der Opfer ist, wenn wir diese Veranstaltung nicht mit einer Gedenkminute oder der Forderung nach Errichtung eines Denkmals in Lauchhammer oder Cottbus beginnen. Denn: Ist erst einmal ein Denkmal errichtet, dann – so sagt die Erfahrung nicht nur mit der DDR – dann ist die Debatte, ein echtes Interesse daran und damit das Problem erledigt. Genau das wollen wir aber nicht.

Wir wollen mit dieser Veranstaltung, dass nachhaltig, ohne Rechthaberei, zu neuem Nachdenken angeregt werden kann. Wir wollen eben nicht, dass nach diesem Boom von Veranstaltungen und Bekenntnissen über den 17. Juni 1953 und damit auch über die Opfer nicht mehr geredet wird. Wir wollen, dass dieses tatsächlich historische Datum anregt, über Zusammenhänge von Demokratie und Macht weiterhin nachzudenken, so dass das Reden darüber in Zukünftiges weist.

Gerade die „Nachwendegeneration“ hat einerseits das Recht, die Dinge um den 17. Juni 1953 unbefangen, also auch respektlos, zu bewerten. Andererseits ergibt sich für Bildung und Wissenschaft die Pflicht, dieses komplizierte Thema eben nicht durch eine vereinfachte holzschnittartige Sicht aktualistisch für heutige politische Zwecke nutzbar machen zu wollen. Es wird nicht funktionieren, aus dem 17. Juni ein Symbol der deutschen Einheit zu machen. Dazu war das Ereignis wahrscheinlich eine zu sehr originär ostdeutsche Revolte. Und dazu war der 17. Juni im Westen als Staatsfeiertag zuwenig mit einer inneren Einstellung zu dem Problem verknüpft.

Ich will nichts verallgemeinern, aber eine Episode möchte ich erzählen: Einige meiner damaligen Kolleginnen und Kollegen an der Karl-Marx-Universität Leipzig hatten als Arabisch-Experten, sofern sie im Besitz eines Reisepasses waren, die Möglichkeit jeweils im Sommer an internationalen Weiterbildungsveranstaltungen in Tunesien teilzunehmen. Wie das so üblich ist in Sprachkursen mit internationaler Besetzung, es gibt immer Fragen zum eigenen Land, also auch zum Thema Nationalfeiertag. Die Kolleginnen und Kollegen aus der DDR hatten keine Probleme, ihren 7. Oktober zu erklären. „Gründung der DDR 1947, am 7. Oktober, nachdem die BRD gegründet war.“ „Aha“, war die Reaktion, die sich allerdings nur auf den zweiten Teil des Satzes bezog. Alles andere war klar, sehr einsichtig.

Dann die Kolleginnen und Kollegen aus der Bundesrepublik Deutschland: „Nationalfeiertag ist der 17. Juni.“ „Warum?“ „Weil im Osten, also in der DDR, am 17. Juni 1953 ein Arbeiteraufstand stattfand.“ Manche, je nach politischer Einstellung, sprachen auch vom „Putschversuch in der DDR“. Diesen Umstand möchte ich hervorheben, weil er damit zu tun hat, was wir heute neben allen Misslichkeiten im Osten eben auch haben: Meinungsfreiheit.

Die Kolleginnen und Kollegen aus Frankreich, Ägypten, Algerien oder Tunesien konnten das alles nicht fassen: „Weil die im Osten etwas angestellt haben, feiert ihr euren Nationalfeiertag?“ Manchem Westkollegen war diese Frage peinlich, weil sie sich dabei ertappt fühlten, nie darüber nachgedacht zu haben.

„Aber schließlich, außer dass wir nicht zur Arbeit müssen, passiert ja auch nichts.“ „Ja, was sollte denn auch bei euch an diesem Tag passieren?“, war die Frage, die niemand beantworten konnte.

Das ist die eine Seite.

In der DDR hatten wir den seltsamen Umstand, dass auch kritische Geister, auch im Stück des Lehrer- und Schülertheaters zitierte, letztendlich auch ohne Not Loyalitätserklärungen gegenüber der DDR-Regierung abgaben. Auch Brecht, der soeben mit seinem berühmten Gedicht eine Rolle spielte – „dann soll sich doch die Regierung ein neues Volk wählen“ – schrieb an die Regierung und nicht an die Arbeiter.

Und das bombastische Stalin-Gedicht, das Sie am Anfang hörten, ist von Heiner Müller. Heiner-Müller-Fans haben danach eigentlich nur zwei Möglichkeiten: Entweder sie sind keine Fans mehr oder sie gestehen Heiner Müller ein Recht auf Veränderung zu. Dann, bitte sehr, möchte ich dieses Recht für alle Menschen einklagen: Veränderung als den normalen Zustand des Menschen.

Dann aber stimmen die ideologischen Formeln nicht mehr

−    einmal Stalinist, immer Stalinist;

−    einmal Aufständischer, immer couragiert,

−    einmal Bürgerrechtler, immer für die Rechte der Bedrängten,

−    einmal Stasi, immer Stasi,

−    einmal Demokrat, immer auf der Seite der Guten,

−    einmal Arbeiter, immer guter Arbeiter.

Es geht uns nicht darum, die politische Brisanz des Themas zu verniedlichen, auch nicht darum, eine für heute gültige abschließende Sicht zu formulieren. Wir wollen in einer Art Dialog zusammenbringen, was scheinbar nicht zusammen passt:

−    dass noch heute Zeitzeugen die Ereignisse unterschiedlich – ja konträr – bewer-ten,

−    dass die meisten Menschen rund um Senftenberg offensichtlich zu dem Thema nichts mehr hören wollen,

−    dass viele der offiziellen DDR-Standpunkte über dieses Ereignis sich als Legenden erwiesen,

−    dass es Menschen gibt, die diese Legenden als ihre Wahrheit am liebsten retten würden, weil sich ihr politisches Engagement daran orientierte und sie auch davon überzeugt waren, Gutes getan zu haben,

−    dass aber nach Offenlegung der Akten auch die Heroisierung der Protestierer im Westen nicht haltbar ist

−    und dass vor allem junge Leute heute mit dem außerhalb von Jubiläumsaktionen noch immer in Schule und politischer Bildung ungeliebten Thema kaum etwas anfangen können.

Lassen Sie uns auf der Grundlage von Fakten, die uns Frau Dr. Wilfriede Otto referieren wird, über diesen Jahrestag reden. Denn diese Veranstaltung heute stellt sich einem Ereignis, das für die eine Generation erlebt wurde und vor allem der offizielle Umgang in der DDR mit diesem Datum durchaus politische Haltungen pro oder contra maßgeblich auch emotional prägte. Der 17. Juni 1953 war oder ist immer noch ein hochgradig ideologisches Datum. Für die heute Zwanzig- oder Dreißigjährigen spielen dagegen die alten einseitigen Bewertungen kaum noch eine Rolle. Die emotionale Bindung dieser Generation zu den Ereignissen des 17. Juni 1953 scheint nicht sehr verschieden von der zu sein, die das Verhältnis heute Lebender zum Dreißigjährigen Krieg kennzeichnet. Dies alles wollen wir mit dieser Veranstaltung berücksichtigen. Es soll in gewisser Weise für unterschiedliche Generationen um eine neue Annäherung an ein lebendiges historisches Thema gehen, nicht um Abschluss oder Abrechnung, sondern um Dazulernen. Das Ergebnis dieser Veranstaltung ist offen. Allerdings, ein Ergebnis steht fest. Mindestens 18 Schülerinnen und Schüler haben sich in den vergangenen drei Monaten mit dem 17. Juni 1953 beschäftigt und ein inhaltlich interessantes und eigenwilliges Resultat heute dargeboten. Die künstlerische Qualität, und unsere Erwartungen waren sehr hoch, hat unsere Erwartungen noch übertroffen. Dafür danken wir sehr.

Veröffentlicht in: Kurt Frotscher/Wolfgang Krug (Hrsg.). 17. Juni 1953 – Der Streit um sein Wesen. Leipzig: GNN Verlag, 2004. S. 20-24